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In seinem „Bekenntnisbrief“ vom 29. 4. 1916,
gerichtet an den Freund Raimund Wagner,
dessen Bekanntschaft Josef Weinheber in der
Abendschule „Freies Lyceum“ machte, nimmt
der junge Dichter auf eine seiner frühen
zyklischen Arbeiten, die unveröffentlicht blieben,
Bezug und formuliert dabei die Grundzüge
seiner damaligen Weltanschauung:
[...] Ich habe Dir auf meiner vorigen Karte
geschrieben, daß ich einer Periode der
Untätigkeit verfallen bin. Das ist jetzt wieder
vorbei: Ich habe wieder ein Ziel, auf das ich
losgehen kann: Den Cyklus von „Tag und Traum“
[d. i. Zwischen Tag und Traum, auch: Erlöser
Geist, s. SW I/1 73ff.] ans Ende zu führen. Zu
suchen, inwieweit die Zukunft, inwieweit der
Mensch der Zukunft die Begriffe Gott und Ding,
Wirklichkeit und Schein, Tag und Traum in eins
zu bringen imstande ist. Denn ich glaube, wenn
wir soweit sein werden, dies zu können, dann ist
das Ziel aller Dinge, aller Träume, ist alles
erreicht. Dann muß das, was wir heute als
„Leid“ und „Tod“ bezeichnen, nur mehr ein böser
Klang aus der Menschheit dunklen,
unvollkommnen Tagen sein. Und ich glaube
auch, daß nichts Wesentliches auf die Dauer der
grübelnden Sehnsucht des Menschen verborgen
bleiben wird. Und daß das Wesentliche nicht (wie
viele heute glauben) ein Erfinden von
Tauchbooten, Luftschiffen und Kanonen
raffiniertester Construktion [ist], sondern in jenen
Werten und Verhältnissen liegt, denen mit mir
heute nur wenig andre nachsinnen. Unser aller
heißeste Sehnsucht war, ist und wird immer in
dem einen Wort gipfeln: „Glück.“! – Je
unvollkommener der Mensch, desto
unvollkommener sein Begriff von Glück, desto
kleiner infolgedessen sein Glück selbst. Daß wir
aber trotz aller Rückfälle (die sich überall in der
Natur finden) immer nach aufwärts steigen, ist
erwiesen. Je lauterer, durchgeistigter wir durch
die Zeiten werden, desto mehr Glück muß unser
Leben bedeuten. Das ist eine einfache, logische
Folge. Unser einzig Göttliches liegt in der
Entwicklungsmöglichkeit. Muß nicht einmal eine
Zeit kommen, deren Menschen staunen werden
über die Robustizität unseres Denkens, unserer
Sinne, unserer menschlichen Einrichtungen
überhaupt? Muß nicht eine Zeit kommen, in der
der Geist alles ist? Was wissen wir heute über
unsre geistigen Beziehungen zueinander und zu
den Dingen? Was über all die unbegreiflichen
Zusammenhänge aller Wesen (und Dinge, denn
auch sie sind Wesen) zueinander? Heute sind wir
noch nicht weiter, als daß wir unsere Einsamkeit,
unsere Zusammenhangslosigkeit, die nichts
anderes als Unvollkommenheit und Mangel an
Geistigkeit ist, klar erkannt haben. Was aber
wissen wir „von den Dingen, die dahinter liegen?“
Und uns „Träumer“ die wir die wahrhaft Tätigen,
die wirklich Bauenden sind, uns verhöhnt man!
Und doch muß eine Zeit kommen, die die
„Träume“, die Gefühle unserer Größten von heute
zum Tag, zur Wirklichkeit macht. Eine Zeit, die
unsere albernen, kümmerlichen Begriffe von
„Glück“, „Gott“, „Leben“ nicht mehr kennt, weil in
ihr diese Begriffe in ihrer höchsten Vollendung
eins geworden sind, sich in ihren Wesen (nicht nur
in ihren Menschen!) verwirklicht haben. - - Du
schreibst mir: „Ich werde Gott nicht finden.“
Abgesehen von der dunklen Erinnerung an eine
Fabel von einem, je länger er über Gott
nachdachte, desto weniger Klarheit erlangte, von
dieser Erinnerung, die Dich bei Deinem Wort
beeinflußt hat, so muß ich Dir doch eines
1916: An Raimund Wagner
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