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Anhang
Nur für O Mensch, gib acht, das „erbauliche
Kalenderbuch für Stadt- und Landleut“, gilt eine
ähnlich substantielle Veränderung der
Personenperspektive wie bei Wien wörtlich,
eine distanzschaffende Betonung des
„Rollenhaften“ der lyrischen Person. Um nach
seiner Vaterstadt auch seiner süddeutsch-
österreichischen Heimat ganz aus der Sprache
heraus ein Denkmal zu setzen, schlüpft der
Künstler nun in die Rolle des Kalenderdichters,
der den Leser mit liebevollem Humor und
heiterer Ironie durch den bäuerlichen
Jahreskreis, die Feste des Kirchenjahres und das
ländliche Brauchtum führt. Mit spielerischem
Ernst knüpft Weinheber an die große Tradition
des Volkskalenders an und entfaltet in zwölf
Monatszyklen mit je sieben Gedichten
grundverschiedener Art ein buntes Spektrum
der Formen und Stile: vom holzschnittartigen
Monatsspruch („Bäuerliches Kalendarium“) bis
zum burlesk Balladischen (Der Bauer und die
Bienen, Der Rest von Ottakring etc.); vom
Magischen Kalendarium (Tierkreis-Sprüche) bis
zu den Ding-Gedichten, die sich dem ländlichen
Hausrat widmen (Die Uhr, Die Schüssel etc.);
vom ständischen Rollengedicht im engeren Sinn
(„Ständekalendarium“: Arbeiter, Handwerker
etc.) bis zum religiösen Figurengedicht
(Heiligenminiatur: Sankt Laurentius, Sankt
Michael etc. – biblische Motive: Judaskuß,
Auferstehung etc. – religiöses Brauchtum:
Sternsingerlied, Lichtmeß etc.); vom scherzhaften
„Spruch“ (Magisches Rezept, Schwammspruch,
Bauerngarten etc.) bis zum Bild-Gedicht
(„Einwörtlichungen“ von Werken der bildenden
Kunst: Die Blinden nach Brueghel d. Ä. etc. –
Porträts und Selbstporträts: Herr Walther von der
Vogelweide zur Miniatur in der Manessischen
Handschrift, Meister Anton Pilgram nach dem
Selbstbildnis unter der Kanzel im Stephansdom
etc. – Szenen, Landschaften und Ensembles: Die
Armen in der Weihnacht, Land im Lenzing,
Jahraus – jahrein etc.). – Die literarischen
Vorbilder sind hier weniger entscheidend (Dr.
Owlglass, Franz Stelzhamer, Neidhart von
Reuenthal werden genannt). Der Vorrang gilt der
– auf breiten Studien volkskundlicher Schriften
und literarischer Quellensammlungen gründenden
– intertextuellen Arbeit an dem teils mündlich-
praktisch, teils „volkspoetisch“ tradierten
Sprachmaterial selbst, und somit abermals
denjenigen Formen des Humors, die auf dem Spiel
mit dem Tonfall, der lebendigen Redewendung,
sprichwörtlichen Redensarten (Bauernregeln,
Sprüche und Formeln des Aberglaubens etc.), also
einer phraseologischen Hellhörigkeit im weitesten
Sinn, beruhen. Sog. Stilporträts (z. B.
Stiefelknecht und Wetterhahn) versuchen
ähnliches auf der Ebene einer vergangenen
Epochensprache.
Anders als noch bei Wien wörtlich gehört auch
der bibliophile Bildschmuck, den die Graphikerin in
enger Zusammenarbeit mit dem Dichter und in
freier Verarbeitung ikonologischer Konventionen
vornimmt, von Anfang an konstitutiv zum Ganzen
des Werkes. In dieser künstlerischen
Einzigartigkeit, der souverän durchdachten
Gestaltetheit und dem christlich-humanistische
Ethos des Kalenderbuches – Weinheber nennt es
das „herzene Element“ –, liegt der Schlüssel zu
dem bewußten Kontrapunkt, den es gegenüber der
Doktrin „volkhafter“ Dichtung und der literarischen
Verklärung der bäuerlichen Welt im Sinne des
Blut- und Boden-Mythos setzen möchte.
Infolgedessen zieht es sich schon kurz nach
seinem Erscheinen den Zorn Robert Leys zu
(„geistiges Gift für unser Volk“, „Klassenkampf
Katholizismus“ [1]), dessen „Deutsche
Arbeitsfront“ inzwischen in den Besitz des Langen-
Müller-Verlages gelangt ist, und trägt dazu bei,
daß Gustav Pezold zu Beginn des Jahres 1938
zum Rücktritt gezwungen werden kann; ab 1941
werden keine weiteren Auflagen mehr genehmigt.
cf
O Mensch, gib acht (1937)